Q. Wie und wann ist Deinem Verständnis nach Taiji entstanden?

Es gibt zwei Versionen der Geschichte des Taiji – eine schriftliche akademische und eine andere, die von Lehrer zu Schüler weitergegeben wird. Meinem Lehrer (Meister Huang Xiangxian) wurde die Geschichte des Taiji von seinem Lehrer erzählt, und dieser hatte sie wieder von seinem Lehrer, und so weiter. Ich vertraue dieser Art der Weitergabe mehr, da jeder Mensch dieser Kette eine lange Zeit des Trainings, 20 Jahre oder länger, mit ihren eigenen Lehrern hinter sich hatte. Ihre Lehrer gaben ihr authentisches Wissen weiter, das sie von ihren eigenen Lehrern bekommen hatten. Die schriftlichen historischen Aufzeichnungen sind wahrscheinlich unvollständig, weil besonders in früheren Zeiten Lehrer keine Informationen nach außen gaben. Es war eine Art geheime Information, die von Lehrer zu Schüler weiter gegeben wurde. Erst in modernerer Zeit wurde Geschichtliches niedergeschrieben und unterschiedliche Berichte miteinander in Beziehung gesetzt. Wenn man sich die geschichtlichen Aufzeichnungen ansieht, die ein paar Generationen zurück liegen, gibt es einen Bruch, vor dem kaum etwas bekannt ist. Die Information, die von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurde, war kontinuierlicher und geht zurück bis zu dem, der als wahrscheinlicher mystischer Begründer angesehen wird, nämlich Chang San-Feng, von dem man annimmt, dass er vor über 750 Jahren gelebt hatte. Auf diese Weise wurde Information weitergegeben. Mein Lehrer erhielt sie von seinem Lehrer und so weiter, so weit zurück wie wir sie jetzt kennen. Ich denke, dass das eine vertrauenswürdigere Information ist.

Q. Was erzählten sie zum Beispiel über die Ereignisse zur Zeit von Yang Luchan (1799-1872)?

Yang Luchan lernte von einem Mitglied der Chen Familie. Es ist (gemäß der inneren Überlieferung) wahr, dass der beste Schüler jedes Meisters die Linie weiterführt – manchmal gibt es mehrere beste Schüler, nicht nur einen. Also führt der (oder einige) beste Schüler die Linie weiter. Die andere Überlieferung, dass ein Familienmitglied die Linie weiterführt entspricht eher der äußeren Überlieferung, nicht der inneren. Yang Luchan war, so weit wir wissen, der beste Schüler, wesentlich besser als die anderen seines Lehrers, und so wurde die Taiji Tradition an Yang Luchan weitergegeben.

Nach Meister Ma Yueh-Liang repräsentiert der gegenwärtige Chen Stil nicht das Taiji, das die Chen Leute zur Zeit von Yang Luchan übten. Meister Ma sagte, dass es verloren war und erst seit kurzem aus der Tradition der Chen Familie aber mit typischen Shaolin Charakteristika wiederbelebt wurde.

Q. Erklärt das, warum der Chen Stil heute den Shaolin Stilen so ähnlich sieht?

Ja. Das Taiji des Chen Stils ist tatsächlich dem Shaolin näher als dem Taiji. Zu der Zeit als die Kommunisten China übernahmen, wurde Taiji teilweise unterdrückt. Viele der besten Taiji Praktizierenden flohen nach Hong Kong, Taiwan, Amerika und Großbritanien. Diejenigen, die in China blieben, wurden stark unterdrückt – sie wurden von der Ausübung oder dem Unterrichten abgehalten, oftmals ins Gefängnis gebracht und manchmal getötet. Später erkannten die Kommunisten, dass sie einen Fehler gemacht hatten, und sie begannen den Versuch Taiji wieder zu beleben. Da aber die Vertreter der Yang und Wu Stile fast vollständig in den Westen geflüchtet waren, versuchten sie den Chen Stil wieder aufleben zu lassen. Dieser Stil wurde von der Regierung gefördert; es war eben einer, der im Westen nicht so weitverbreitet war. Deshalb wurde der Chen Stil so populär. Ich kenne Yang und Wu Stil Leute, die aus dem einfachen Grund zum Chen Stil gewechselt sind, weil es der einzige war, den sie praktizieren durften.

Q. Hat sich Taiji in Deiner Trainings Linie seit seinen frühen Anfängen überhaupt verändert?

Es ist absolut unbekannt, wie sehr es sich in den letzten Jahrhunderten veränderte. Was wir wissen, ist, (noch einmal: diese Information bekam ich durch persönliche Gespräche mit Meister Ma Yueh-Liang, der den Großteil des 20. Jahrhunderts in Shanghai lebte) dass vor seiner Zeit die langsame Form nicht existierte. Die langsame Taijiform des Yang Stils wurde Anfang des 20. Jahrhunderts kreiert. Yang Chengfu schuf die Yang Stil Form und Wu Jianquan gründete den Wu Stil. Davor waren die Formen im Wesentlichen verschieden.

Q. Es scheint nicht viel Übereinstimmung zwischen verschiedenen schriftlichen Berichten über die Geschichte des Taiji zu geben.

Nein, es gibt nicht viele gute Informationen darüber. Meister Ma traf und kannte diese alten Taiji Größen – Yang Chengfu, Wu Jianquan, Yang Jianhou, Yang Banhou. Vor seinen Berichten aus erster Hand ist die Geschichte wirklich sehr vage.

Q. Wie haben Deiner Meinung nach die chinesischen Philosophien Taiji beeinflusst, wie z.B. der Konfuzianismus, der Daoismus und der Chan Buddhismus?

Sie haben eine wichtige Rolle gespielt – sie spielen eine Rolle in der gesamten chinesischen Gesellschaft. Die Chinesen haben diese drei sehr selbstverständlich und leicht in ihr Leben integriert ohne sie als unterschiedliche Dinge zu empfinden. Normalerweise verwenden sie den Konfuzianismus für ihren Alltag, für ihre Beziehung zu ihren Eltern, ihrer Familie, der Gesellschaft. Der Buddhismus hat mehr eine religiöse Bedeutung, der Daoismus besitzt eher philosphische Bedeutung. Und so verwenden sie die Philosophie des Daoismus, die Religion des Buddhismus und den gesellschaftlichen Umgang, wie er im Konfuzianismus empfohlen wird. Dieser philosophische Pragmatismus beeinflusste natürlich auch die Lehre des Taiji. Meister Huang und Meister Ma zum Beispiel waren Mitglieder einer esoterischen Gesellschaft, die bewusst konfuzianische, daoistische und buddhistische Prinzipien vereinte. Sie führten diese Prinzipien zusammen und hatten nicht das Gefühl, dass es drei verschiedene Dinge sind, die voneinander getrennt bleiben sollten, so wie es Menschen im Westen eher sehen.

Q. Im Westen sagen viele Leute Taiji sei am meisten vom Daoismus beeinflusst. Ist das wahr?

Ich würde sagen ja. Taiji wird eher als daoistische Kunst angesehen, während die Shaolin Künste in buddhistischen Klöstern praktiziert wurden. Taiji, Hsing I, Ba Gua und ein paar andere weniger bekannte Künste entstanden durch daoistische Lehrer. Der Lehrer von Meister Huang war bekannt als daoistischer Wander Mönch. Buddhismus hat einen späteren Einfluss in China als Daoismus. Daoismus kann über Lao Tzu 2.500 Jahre zurückverfolgt werden, so dass das meiner Meinung nach als der ursprüngliche Einfluss angesehen werden kann. Als sich Daoismus und Buddhismus trafen, entstand der Chan Buddhismus. Chan Buddhismus verbreitete sich später von China nach Japan und ließ den Zen Buddhismus entstehen.

Q. Könntest Du bitte die grundsätzliche Bedeutung des Yin Yang Symbols (ein wahrscheinlich daoistisches Symbol) und seine besondere Relevanz für Taiji erklären?

Taiji als philosophisches Konzept existierte lange vor Taiji als Übungspraxis. Erst in den letzten zwei oder drei hundert Jahren wurde diesem Übungssystem der Name Taiji gegeben. Die allgemeine Bedeutung des Yin Yang Symbols beschreibt vereinfacht gesagt die intelligente Interaktion zwischen entgegengesetzten Kräften, und nicht das unintelligente Aufeinandertreffen und den Konflikt zwischen ihnen. Um es genauer zu sagen, es kann auf zwei Menschen angewendet werden – die intelligente Interaktion zwischen den beiden. Man kann es allgemeiner auch auf die Gesellschaft anwenden, in der großer sozialer Druck auf Gruppen ausgeübt wird, oder sogar kosmologisch auf die Interaktion von Universen. Das Symbol kann auch spezieller auf das Innere des Menschen angewendet werden, auf Kräfte, die sich normalerweise bekämpfen. Zum Beispiel auf Emotionen und Intellekt, oder die Bedürfnisse des Körpers und die Wünsche des Geistes. Es kann auch auf den Kampf zwischen äußeren Kräften des Alltags angewendet werden, die einen Menschen beeinflussen, und die inneren, die mit innerer Entwicklung, Erleuchtung oder Unsterblichkeit verbunden sind.

Um noch etwas hinzu zu fügen: Das Yin Yang Symbol kann auch im Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Intention als aktiven und passiven Aspekt gesehen werden. Und damit betrachtet man es genauer nicht als zwei einander entgegengesetzte Kräfte, sondern als eine permanent Passive und eine permanent Aktive, zusammen mit dem intelligenten Zusammenspiel dieser beiden Dinge. Die Intelligenz ist die neutralisierende Kraft, was nicht immer verstanden wird. Dieses intelligente Zusammenspiel zwischen Aufmerksamkeit und Intention innerhalb des Geistes wird auch im Nervensystem wiedergespiegelt, wo sensorische Neuronen mit dem sensorischen Apparat des Körpers und die motorischen Neuronen mit dem motorischen Apparat verbinden, während die Interneuronen die Information zwischen den sensorischen und den motorischen Neuronen steuern. So spiegelt sich der Geist im Nervensystem des Körpers wieder und ist damit ein sehr spezifisches Beispiel für das Yin Yang Symbol.

Q. Das klingt so als würde dieses Prinzip auch wissenschaftlich bestätigt werden.

Ja, das Taiji Diagramm ist eine sehr genaue physikalische Beschreibung der Vorgänge im Körper.

Q. Kannst Du bitte das Konzept hinter den Trainingsmethoden erklären, das Dein Taiji zu einer inneren Kunst macht?

Was macht eine Kunst eher zu einer inneren als zu einer äußeren? Es ist grundsätzlich dann eine innere Kunst, wenn der Geist aktiv ist und der Körper darauf reagiert – anders als wenn nur die Körperbewegung stattfindet. Umgekehrt, wenn Leute Bewegungen nur mit Aufmerksamkeit trainieren, führt der Körper die Aktivität aus, während das Bewusstsein die Körperbewegung wahrnimmt. In diesem Fall ist der Körper aktiv und der Geist passiv. Wenn auf diese Weise geübt wird, ist es eine äußere Kunst.

Dann gibt es noch die Frage von welcher Ebene diese Intention, die die Bewegung einleitet, herkommt. Wenn die Intention eine gänzlich äußere ist, kann man kaum von einer inneren Kunst sprechen. Wenn man sich zum Beispiel ein Bild im Geist vorstellt und die Bewegung daran anzupassen versucht, wäre es ein sehr oberflächlicher Gebrauch des Geistes. Die Tiefe des Geistes, welche die Intention für eine Bewegung hervorbringt, bestimmt also den Grad der inneren Kunst.

Q. Die meisten Leute, die zum Taiji kommen, kommen deshalb, weil ihr Geist relativ ruhig wird, und sie in einen schönen entspannten friedvollen geistigen Zustand kommen. Könntest Du bitte ein wenig darüber sprechen, wie sehr das den Prozess beim Taiji fördern oder behindern kann?

In den ersten Phasen ist es wichtig zu lernen, wie man den Geist still werden lässt, die Emotionen beruhigt, und den Körper entspannt. Das ist äußeres Training: Du bewegst den Köper weich, ruhig, atmest sanft und als Ergebnis durch das Wahrnehmen dieser weichen ruhigen Bewegung, wird der Geist still, die Emotionen beruhigen sich, und der Körper entspannt sich. Dieses anfängliche Training braucht üblicherweise ein paar Jahre – das ergibt die grundlegende Voraussetzung, um mit dem inneren Training zu beginnen.

Q. Taiji wird oft als eine sehr mühelose Kunst dargestellt, da es dem Übenden ein friedvolles Gefühl gibt. Glaubst Du, dass es ein realistisches Bild über Taiji ist?

Es gibt zwei Aspekte der Mühelosigkeit. Der äußere Aspekt betrifft das Verringern von übermäßigem Denken, überbordenden Emotionen und übertriebenen Körperaktivitäten, und dann lassen die sanften Bewegungen ein Gefühl von Mühelosigkeit entstehen – aber das ist nur ein äußerliches Gefühl von Mühelosigkeit.

Es gibt noch eine völlig andere Bedeutung: wenn man intensiv trainiert, erreicht man vielleicht nach einigen Jahrzehnten, weil die sehr tiefen Teile in einem aktiv werden, einen Zustand, in dem man auch mit schwierigen äußeren Umständen mühelos umgehen kann.

So entsteht die erste Mühelosigkeit dadurch, dass man die äußeren Umstände so leicht, still und ruhig wie möglich macht, sich weich und langsam bewegt, und man dann durch diese äußeren einfachen Bedingungen in einen friedvollen Zustand kommt. Unglücklicherweise verschwindet diese Mühelosigkeit, wenn man schwierige äußere Umstände hat.
Erst später mit großer Intelligenz von einem sehr tiefen Teil eines Menschen, wird man fähig sein, mühelos mit schwierigen äußeren Bedingungen umzugehen. Das ist ein sehr viel tiefgreifenderer Aspekt von Mühelosigkeit, der erst nach langem Training entsteht.

Q. Deutet das dann auf eine tiefgehende Integration der Taiji Praxis hin?

Ja, es ist wirklich ein Hinweis auf die Tiefe des Trainings, wenn Menschen mit schwierigen äußeren Umständen, körperlichem, mentalem und emotionalem Stress auf eine besonders intelligente, weiche und sanfte Weise umgehen können.

Q. Wie wichtig ist Deiner Meinung nach die Verbindung des Taiji zur Vergangenheit und welche Bedeutung hat es für das heutige Leben?

Die Verbindung zur Vergangenheit ist wichtig, nicht vom philosphischen Standpunkt aus, sondern einfach deswegen, weil jede Person, die tiefgehend trainiert, die Kunst von einer Person erhalten hat, die vor ihr tiefgehend trainiert hat.

Das Training geht weiter in der Vergangenheit zurück, als uns von der Geschichte überliefert wurde, und obwohl die Kunst von Generation zu Generation weiterentwickelt werden kann, hängt es immer noch von der höchst verfeinerten Information und dem Training ab, das von den vergangenen Generationen weitergegeben wurde. Es ist nicht etwas, das einfach nur neu ist, und das leicht innerhalb einer Generation entdeckt werden kann. Das ist die Bedeutung der Vergangenheit.

Die Kunst hat die gleiche Bedeutung für das heutige Leben wie für jede vorhergehende Generation.

Q. Welches Gewicht hat Meister Huang auf manche philosophische Prinzipien gelegt?

Er hat großes Gewicht auf die philosophischen Prinzipien gelegt, auf die Aspekte jener drei Philosophien, die vorher erwähnt wurden – Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus. Er machte keinen Unterschied zwischen ihnen, und hat sie alle als wichtige Lehren für das Taiji betrachtet.

Wie vorher schon erwähnt, war er ein Mitglied einer esoterischen Gesellschaft (so wie Zheng Manqian und Yang Chengfu), wo sie die äußeren gesellschaftlichen Prinzipien des Konfuzianismus, die eher religiösen Praktiken des Buddhismus (das Rezitieren von Sutren, etc.) und die Praxis der Zirkulation und Transformation der inneren Energie, wie sie in der Daoistischen Meditation gelehrt wird, integrierten. Anfangs lernte er Taiji in Daoistischer Tradition von seinem Lehrer, der ein daoistischer Mönch war. Dieser Lehrer unterrichtete ihn in Chinesischer Medizin, in den daoistischen Kampfkünsten, in der daoistischen Philosophie und lehrte ihn das Lesen der Klassiker und der alten daoistischen Schriften und vieles mehr – es war also ein integraler Bestandteil seines Unterrichts, und er versuchte das an uns weiterzugeben.

Q. Kannst Du bitte erklären, was die Klassischen Schriften des Taiji sind?

Die Klassischen Schriften des Taiji sind eine Ausgabe von Schriften, deren genauen Daten ich nicht nennen kann. Ich kann nicht einmal die genauen Manuskripte weitergeben, da verschieden Lehren leicht unterschiedliche Ausgaben haben. Aber es gibt ein Herzstück der Klassischen Schriften mit ca. fünf Kapiteln. Es sind dies Schriftstücke von kompetenten Taiji Lehrern der letzten 100 oder 200 Jahre, die die grundlegenden Prinzipien des Taiji beinhalten und auf die man sich normalerweise bezieht, und wenn es nicht so ist, kann man es eigentlich nicht Taiji nennen.

Q.Du hast während Deines Lebens drei wichtige Philosophien von drei verschiedenen Lehrern studiert: Daoismus von Meister Huang, Hinduismus und Yoga von Mouniji Maharaj und Sufismus von Abdullah Dougan. Wie hast Du diese verschiedenen Herangehensweisen in Dir miteinander vereint, wenn sogar zum Beispiel zwei nur leicht von einander verschiedene Taiji Linien Verwirrung oder Probleme bescheren kann?

Ich konnte mit diesen drei Lehren, die Hinduistische Yoga Lehre, die Daoistische Lehre und die Sufi Lehre genauso zurechtkommen, wie mein Lehrer mit dem Konfuzianismus, dem Buddhismus und dem Daoismus. Im Besonderen suchte ich nach dem Gemeinsamen dieser drei Lehren, und ich erkannte, dass das Gemeinsame auch das war, was wichtig war. Und umgekehrt, das was spezifisch nur auf eine dieser Traditionen zutraf, war eine Schicht, die ihren Ursprung in der Gesellschaft hatte, in der diese Tradition entstanden war.

Diese drei sehr erfahrenen Lehrer (die selber von verschiedenen erfahrenen Lehrern gelernt hatten) halfen mir zu unterscheiden, was die wirklich wichtigen Hauptelemente ihrer Traditionen waren und was nur eine Schichte darstellte, die durch Geschichte und Gesellschaft an die Spitze gestellt wurde.

Q. Also hinter das kulturelle Erscheinungsbild dieser Dinge schauen?

Ja, das war der Weg. Ich schaute hinter das kulturelle Erscheinungsbild, weil alles mit der Zeit durch Kulturelles überdeckt wird.

Q. Hast Du auch nach etwas gesucht, das für Dich persönlich relevant war?

Nicht wirklich, ich habe nichts gesucht, das für mich persönlich wichtig war. Ich versuchte vielmehr die wahre Essenz der Lehren zu entdecken. Für jeden dieser Lehrer, von denen ich gelernt hatte, war es so, dass es tief in ihnen überhaupt keinen Unterschied gab. Sie hatten genau das gleiche Verständnis. Jeder von ihnen hat bis zum Zeitpunkt seines Todes nur mehr sehr wenig von den kulturellen Aspekten in seinen Lehren gehabt. Natürlich gab es früher in ihrem Leben wesentlich mehr Bezug zu ihrer jeweiligen Kultur. Als ich zum Beispiel Meister Huang kennenlernte, war er sehr von der chinesischen Kultur beeinflusst. 20 Jahre später hat sein Unterricht viel davon verloren. Und bei den anderen Lehrern war es das gleiche. Abgesehen von diesen Veränderungen war ihre Lehre tief im Inneren die gleiche.

Q. Wurden sie deshalb innerhalb ihrer Kultur als eher unorthodox betrachtet?

Jeder von ihnen wurde, als sie sich schrittweise weiterentwickelten, als eher unorthodox angesehen.

Q. Welches spirituelle Ziel ist Deiner Meinung nach im Zusammenhang mit Taiji erreichbar?

Im Buddhismus sprechen sie von Erleuchtung, im Daoismus von Unsterblichkeit, im Sufismus von Auflösung. In der hinduistischen Yoga Tradition sprechen sie von Verwirklichung. Das Selbst verwirklichen, das nicht reale Selbst des Sufismus zerstören, in der daoistischen Tradition Unsterblichkeit erlangen, in der Buddhistischen Tradition erleuchtet zu werden – das sind alles nur Wege, von außen auf das gleiche zu schauen, das im Inneren als Ergebnis von echtem Training stattfinden kann.

Wenn diese Transformation stattfindet (ob man es so sieht, dass ein Mensch mit Licht erfüllt wird, oder die unsterbliche Leere entsteht, oder das Ego zerstört wird, damit das Selbst verwirklicht wird), dann kann der Mensch innerhalb dieses sehr tiefen echten Teil von sich selber leben – und er ist nicht länger abhängig vom Körper, und eine Art Unsterblichkeit wird erreicht.

Es sollte deutlich gemacht werden, dass dieser Prozess eine unaufhörliche Reise ohne vorhersehbares Ende ist, aber es gibt Etappen auf dieser Reise, und eine davon kann angemessenerweise mit dem modernen Begriff „Erleuchtung“ bezeichnet werden, was einer Art Unsterblichkeit entsprechen kann oder auch Selbst-Verwirklichung genannt wird. Diese Phase ist die Stabilisierung des klaren Kontakts mit dem wahren Teil eines Menschen, dem Wahren Selbst. Entwickelte Lehrer betrachten diese Phase als bedeutende Etappe der Reise.

Q. Es scheint heutzutage die Gefahr zu bestehen, dass verschiedene spirituelle Traditionen als Gebrauchsartikel angeboten werden, und es gibt eine New Age Industrie, eine spirituelle Industrie, die es schwer macht, zu erkennen, was wirklich hilfreich ist und was nur oberflächlicher Unterricht ist. Kannst Du bitte einen Rat geben, wie Menschen diesbezüglich klar zwischen dem falschen und dem echten unterscheiden können?

Das Problem entsteht unausweichlich für jeden, da man von einem relativ oberflächlichen Platz aus anfängt. Der oberflächliche Teil, das Denken des Gehirns, liest, hört oder sieht ein wenig tiefergehenderen Unterricht und das Wissen des Bewusstseins des Gehirns (das nur durch die äußeren Sinne aufnehmen kann) wird durch den oberflächlichen Teil des Menschen in mentale Konzepte übersetzt, und er glaubt, dass er diese tiefgehenden Lehren verstanden hat, und beginnt sie dann vielleicht zu unterrichten, verkauft sie an andere weiter und so fanden unausweichlich in jeder Generation Rückschritte statt.

Mir wurde im Zusammenhang mit meinem Unterricht von einem buddhistischen Lehrer eine Geschichte erzählt, dass einer von Buddhas Schülern nach 20 Jahren Unterricht zu Buddha kam und zu ihm sagte: „ich mache deine Meditationen, deine religiösen Praktiken, deine körperlichen Übungen nun seit 20 Jahren und ich scheine keine Fortschritte zu machen“. Der Buddha antwortete: „obwohl du äußerlich alles genauso gemacht hast, wie ich es dir gesagt habe, hast du alles mit deinem Alltags–Geist gemacht. Du hast alles, was ich gesagt habe, in deine Konzepte des Alltags übersetzt. Du hast die Mantren mit deinem Alltags-Geist wiederholt, du hast die Meditation mit deinem Alltags-Geist gemacht, aber der Alltags-Geist kann nicht zum Buddha-Geist führen.“

Genau das gleiche Problem, das es schon vor zweieinhalb tausend Jahren gab, besteht nach wie vor. Menschen lesen, hören und sehen grundlegende subtile Lehren und bilden sich sofort ein, dass sie sie verstehen. Der einzige Weg diese falsche Fährte zu verhindern, ist jemanden zu finden, der etwas Wirkliches aus der Praxis gemacht hat und der in dessen Tiefe führen kann.

Q. Wie kann nun diese offensichtlich sanfte Taiji Kunst als effektive Kampfkunst benützt werden?

Es heißt, dass beim Taiji das Schwache das Starke besiegt und das Langsame das Schnelle. Die Art auf die man Taiji benützen kann, um das Schnelle und Starke zu bezwingen, ist nicht indem man sich dem Schnellen und Starken entgegensetzt. Man darf der Stärke keinen Widerstand leisten, sondern muss mit der Stärke einer Person verschmelzen und ein Teil von ihr werden. Man muss sich mit ihr bewegen und kann dann einen Einfluss auf sie haben. In dem Moment, in dem man sie zu blockieren versucht oder sie in eine andere Richtung zwingen möchte, wird man mit dieser Kraft zusammenstoßen.

Besonders dann, wenn eine Kraft auf einen zukommt, muss man sich in die gleiche Richtung wie die Kraft bewegen, und dann kann man sanft einen Einfluss auf sie ausüben. Genauso als würde man einen Ochsen an der Nase führen, und nicht indem man der Kraft des Ochsen Widerstand leistet oder ihn versucht zur Seite zu drängen. Untrainierte Leute begegnen einer Kraft üblicherweise frontal, während Leute, die in den härteren Kampfkünsten trainiert sind, üben, die Kraft um 90 Grad abzuwehren, aber beide sind auf ihre Stärke als Verteidiger angewiesen. Wie auch immer, auch die kleinste Person kann den Ochsen an der Nase führen, wenn er sich erst einmal in Bewegung gesetzt hat. Das also bedeutet die Redensart, die beim Taiji so geläufig ist, „den Ochsen an der Nase führen“, und das ist der Schlüssel mit der Kraft des Gegners umzugehen. Indem man sich mit der Bewegung des Partners verbindet, kann ein intelligenter Einfluss auf seine Kraft entstehen.

Das was im Satz „der Langsame besiegt den Schnellen“ ausgedrückt wird, wird durch das richtige Timing angewendet. Es wird nicht einfach dadurch erreicht, indem man durch eine langsame Bewegung jemanden besiegt, der sich schnell bewegt, sondern indem man bewusst auf einem viel tieferen Level agiert. Diese Tiefe erlaubt einem den Prozess in seinen frühen Phasen wahrzunehmen und zu verstehen. Noch bevor sich der Vorgang voll entwickelt hat, kann man die ersten Anzeichen erkennen. Das bringt einen zeitlichen Vorsprung gegenüber dem Gegner mit sich, denn ohne große Geschwindigkeit ist man auf ein Ereignis vorbereitet, bevor es seine größte Stärke erreicht. Also ist es in Wirklichkeit das Timing, das Geschwindigkeit besiegt, und Sensitivität oder die Verbindung zum Partner, die dessen Kraft überwinden kann. Indem eine kleinere schwächere Person sensitive Intelligenz benützt, die durch wahres Taiji entwickelt wird, wird es für sie möglich mit der Kraft einer größeren, stärkeren und schnelleren Person umzugehen.

Q. Auch wenn man dieses Prinzip theoretisch versteht, wie lange braucht es ungefähr dies in die Praxis umzusetzen?

Es braucht Zeit schrittweise die Fähigkeit zu erlernen mit Stärke und Schnelligkeit des Partners umzugehen. Zuerst gelingt das nur sehr eingeschränkt, und schrittweise entwickelt sich dieses Können über Jahrzehnte. Aber auch nach einem, zwei oder drei Jahren kann die Person schon ein wenig mit harter Stärke umgehen, indem sie sich damit verbindet und mit ihr bewegt, anstatt dagegen anzugehen oder sie in eine andere Richtung zwingen zu wollen. Natürlich sollte sich das Können nach Jahrzehnten in Richtung Perfektion verändern.

Q. Welchen Rat kannst Du jemanden geben, der mit Taiji anfangen möchte?

enn man mit Taiji anfangen möchte, gibt es zwei wichtige Dinge, die zu tun sind. Das eine ist das Lernen, das andere einen guten Lehrer und einen guten Unterricht zu finden.

Beim Lernprozess gilt es beim äußeren Training anzufangen und sich langsam nach innen vorzuarbeiten. Man beginnt mit dem was man hat. Man hat die Bewegungen des eigenen Körpers, die eigenen Gedanken und die eigenen Gefühle. Man muss mit der Verfeinerung dieser drei Aspekte beginnen. Üblicherweise beginnt man mit der Beseitigung der Spannungen im Körper also mit der Entspannung. Normalerweise ist also der erste Schritt beim Taiji Training den Körper entspannen zu lernen. Das Entfernen übermäßiger Spannung des Körpers kann bei ausreichendem Üben ein, zwei oder drei Jahre dauern. Durch diesen Prozess wird auch die damit verbundene emotionale Spannung und Überaktivität des Gehirns beeinflusst und verringert werden. Das ist es was Anfänger am Beginn versuchen sollten.

Um jemanden zu finden, der das unterrichten kann, braucht es für diese Suche die eigene Intelligenz, die eigene Lebenserfahrung. Manche Lehrer wissen mehr, manche weniger, manche passen besser für einen bestimmten Schüler, manche weniger. Idealerweise sucht man sich jemanden aus, der für einen längeren Zeitraum bei seinem Lehrer trainiert hat, und der wiederum selber eine beträchtliche Zeit bei seinem Lehrer gelernt hat, etc. So dass auf diese Weise die sehr subtilen Elemente der Lehre von Generation zu Generation weitergegeben wurden und nun für Dich verfügbar sind, wenn Du sie lernst.

NACHTRAG


Q. Ich würde gern mehr über die Geschichte des Taiji fragen. Je mehr ich über die Mitte des 19. Jahrhunderts herauszufinden versuche, umso weniger Sicherheit scheint es darüber zu geben. Nach der mündlichen Überlieferung, die Du über die Geschichte des Taiji erhalten hast, ist es wahr, dass Zheng Manqian Unterricht von Yang Chengfu bekommen hat, oder lernte er von einem seiner Schüler?

Zheng Manqian lernte direkt von Yang Chengfu, aber natürlich auch von seinen älteren Schülern. Das ist in allen Schulen so. Er lernte vor allem die Meditation von Zhang Qinlin, einen der ältesten Schüler von Yang Chengfu (der ein echter Schüler seines Vaters Yang Jianhou war).

Q. Was ist über Yang Luchan bekannt und was lernte er von Chen Changxing? Hatte er andere Lehrer?

Ich habe keine guten Informationen über Yang Luchan und seine Lehrer.

Q. Woher hatte die Chen Familie ihre Kunst?

Die meisten alten Lehrer sagen, dass der moderne Chen Stil hauptsächlich Shaolin Chen Stil (engl.:„ Chen village Shaolin“) ist und kaum mehr in Verbindung mit dem Taiji des Chen Stil der Vergangenheit ist, der innerhalb des Dorfes, in dem die Familie Chen ansässig war, gepflegt wurde.

Q. Was war die Bedeutung von Wang Tsung Yueh?

Es gibt nur Spekulationen darüber, wer er war.

Q. Meister Huang wurde von einem daoistischen Weisen unterrichtet. Bekam er seine Informationen hauptsächlich von ihm?

Ja, Meister Huangs White Crane Lehrer war ein daoistischer Mönch. Er lehrte ihn White Crane, Chinesische Medizin und Meditation.

Q. Kannst Du bitte mehr über die spirituellen Anliegen einiger dieser Lehrer erzählen?

Zheng Manqian war in einer daoistischen „heiligen Gemeinschaft“, so wie vermutlich auch Yang Chengfu. Meister Huang war ebenfalls ein Mitglied. Meister Ma Yueh-Liang war, glaube ich, in der gleichen (er sprach mit mir darüber). Sie existiert immer noch in Taiwan und Singapur. Sie unterrichten die inneren Energie-Übungen des Daoismus, die mentalen Einstellungen des Buddhismus und die sozialen Regeln des Konfuzianismus. Ich besuchte die Organisation in Singapur vor ein oder zwei Jahren. Sie haben drei Tempel: einer ist dem Daoismus geweiht, einer dem Buddhismus, einer dem Konfuzianismus. Üblicherweise wurde diese Information sehr geheim gehalten. Den meisten Schülern (von Yang, Cheng, Ma oder Huang) wurde nichts darüber erzählt. Es ist eine Information nur für „Schüler des inneren Kreises“ („inside the door students“).

Q. >Erzählte einer von diesen Lehrern etwas über Chan San-Feng?

Beide, Meister Ma und Meister Huang betonten, dass Taiji auf Chan San-Feng zurückgeht. Aber wer Teil der Kette der Weitergabe seit jener Zeit bis heute war, ist verloren gegangen.

Q. Du hast mir freundlicherweise eine Kopie von Meister Huangs Original-Karte des Stammbaums geschickt. Kannst Du mir bitte mehr darüber erzählen?

Es ist etwas, das bisher nie veröffentlicht wurde – eine geheime Karte der Linien mit Meister Huangs inneren Schülern auf der Grundlinie. Die nächste Linie darüber zeigt alle inneren Schüler von Zheng Manqian. Die nächsthöhere ist die von Yang Chengfus inneren Schülern, etc. Die Karte der Linien offenbart die genaue Kette über 6 oder 7 Generationen zurück. Ich war der einzige, dem erlaubt wurde ein Foto darüber zu machen und das Original verschwand als Meister Huang starb. Unglücklicherweise ist die Auflösung nicht gut genug, um sie zu entziffern, obwohl es vielleicht einfach nur reicht zu wissen, dass so etwas existiert. Ich habe es bis jetzt privat gehalten.

Q. Warum gab es so viel Geheimnis um diese Karte?

Das Geheimnis bestand deshalb, weil vielleicht unaufrichtige Personen versuchen könnten sie für ihre eigenen politischen Zwecke zu benützen. Auch die Geheimpolizei Chinas hätte sie verwenden können, um Menschen und ihre Verwandten zu verfolgen.

Q. Einige der Namen scheinen ausgestrichen worden zu sein, warum das?

Sie sind vielleicht bei ihrem Tod ausgestrichen worden. Ich bin mir nicht sicher, ob eine Person ausgeschlossen werden kann. Meister Huang bemerkte einmal zu diesem Thema, dass obwohl Leute nicht ausgeschlossen werden können, gehörten doch einige in seinem Geist nicht mehr zu seiner inneren Schule.
Interview conducted by Matthew Rochford, June 2011.
Translated by Madrina Maria Rößler und Ronald Hanke.
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